Januar, 2021

Jugend ohne Gott im 21. Jahrhundert

Dieser Text begegnet der Angst, der Passivität, Langeweile und Ambivalenz der heute 20 bis 30-Jährigen und deren Dilemma, dem Mangel an Begehren als Rettung aus der mütterlichen Klammer als auch ihrem Los eines unauflösbarem Realen, abgedeckt von dessen Signifikanten, eines aus dem Ufer geratenen kapitalistischen Systems und dessen Folgen.

Text   Dr. Ute Müller-Spiess

Warum Jacques Lacan zur Argumentation?
Warum, weil er den Riss am besten aufzeigt. Die Angst, die hier gemeint ist, ist keine Störung, die es zu behandeln gilt, sondern die Angst, die den Zugangsweg zum Lacan’schen Objekt klein a freigibt. Dieses Objekt klein a ist nicht wie die anderen Objekte. Also den Zugangsweg zum Objekt klein a, der nicht signifikant ist. Ebenso wie die Angst nicht signifikant ist. „Weil dieser Weg die gesamte Dialektik des Begehrens wieder zum Leben erweckt“ (Lacan Seminar X: 288). Der bekannte Antipsychiater Ronald Laing meinte, Lacan sei der letzte Strand, auf dem sich die Psychoanalyse verteidigt. Sicher ist, dass er die Psychoanalyse aus dem Korsett der Orthodoxie befreit hat aber auch eines immer weiterwachsenden Szientismus, gemeint die Übertragung der Naturwissenschaften auf die Geistes- und Sozialwissenschaften. Der homo analyticus des 20. Jahrhunderts droht vom „homo cerebralis“ abgelöst zu werden. Lacan besinnt sich dabei auf den frühen Freud und zeigt ihn als Visionär in sprach- und kommunikationswissenschaftlicher Ordnung; insbesondere die Genese des menschlichen Subjekts, die für diesen Text wichtig wird.

Warum Lacan zur Argumentation?
In L‘amour fou schreibt André Breton 1937, „Es geht darum, die Wege des Begehrens nicht wieder hinter sich zuwuchern zu lassen“ (Breton 1989: 38). Damit meint er, dass das Begehren nie zur Ruhe, zum Stillstand kommen darf.
Lacan sagt in seiner Ethik der Psychoanalyse „Ich behaupte, dass es nur eines gibt, dessen man schuldig sein kann, zumindest in analytischer Perspektive, und das ist, abgelassen zu haben von seinem Begehren.“ (Lacan 1959/60: 380). Der innerste Kern von Lacans Denken ist der Begriff des Begehrens, sagt Evans (Evans 2002: 53).
Somit ist das Wesen des Menschen sein Begehren, sein unbewusstes Begehren.
Ganz anders verhält sich des Menschen Bedürfnis, das er stillen will. Das Bedürfnis ist ein körperliches, ein biologisches, das vom Anderen gestillt werden soll. Das Schreien des Kleinkindes bei Hunger wendet sich an den anderen, der dadurch zunehmend Bedeutung erlangt als Symbol der Liebe des anderen.
Es entsteht damit verknüpft der Anspruch auf Liebe. Der Anspruch hat somit eine zusätzliche Bedeutung bekommen. Der Anspruch auf Bedürfnisbefriedigung kann gestillt werden, der Anspruch auf absolute Liebe des Anderen nicht.
Und dieser unbefriedigte Aspekt des Anspruchs, dieser Rest, diese Differenz ist das Begehren. „Das Begehren ist weder der Wunsch nach Befriedigung noch der Anspruch auf Liebe, sondern die Differenz, die bleibt, wenn das Erste vom Zweiten subtrahiert wird.“ (Lacan, EC: 691, zitiert nach Evans 2002: 55).
Ziel ist somit nicht die Erfüllung, sondern die Hervorbringung des Begehrens. Somit ist das Begehren immer das Begehren des Anderen. Geliebt zu werden in seinem menschlichen Wert anerkannt zu werden. Alexandre Kojève meint, dafür müsse das Subjekt sein Leben riskieren können.
Dies zeigt sich im Ödipuskomplex, wo das Begehren danach, Objekt des Begehrens des Anderen zu sein, sich darin ausdrückt, dass das Subjekt begehrt, der Phallus der Mutter zu sein. Das eigentliche Begehren ist somit ein inzestuöses nach der Mutter (Lacan, SE VII: 82). Kojève meint, es sei menschlich, das zu begehren, was die begehren, weil sie es begehren (Kojève 1975: 23).

Ich vermute, hier geht es eher um das Bedürfnis um eine Verdinglichung, die jenseits des unbewussten Begehrens liegt. Versuchen wir dennoch damit fortzufahren, um zum Thema des heutigen Mangels des Begehrens zu kommen. Das eigentliche Begehren ist ein inzestuöses nach der Mutter, sagt Lacan.
Er unterscheidet zwischen Begehren und Trieben, beide gehören dem Bereich des Anderen an.
Das einzige Objekt des Begehrens ist das Objekt klein a, nicht Ziel, sondern Grund des Begehrens durch vielfältige Partialobjekte in vielfältigen Partialtrieben repräsentiert. Das Begehren zielt nicht auf eine Beziehung zum Objekt ab, sondern es ist die Beziehung zu einem Mangel.
Das Begehren ist nichts Individuelles, sondern es ist in dialektischer Beziehung zu dem Begehren anderer.
Nun ist der erste Andere im Leben des Kleinkindes die Mutter, deren Begehren das Kind solange ausgeliefert ist, bis der Vater dieses mit dem Gesetz verbindet, also die Mutter kastriert und damit das Kind aus der Willkür des Begehrens der Mutter befreit.

Ich könnte nun noch das 10 Gebot einführen zur Auflösung, „Du sollst nicht begehren deines nächsten Weib“, Du sollst nicht inzestuös begehren deines Vaters Weib.
Unlust, Lust und Genießen. Unlust ist mit einem Erregungsanstieg verbunden, Lust mit deren Verminderung. Die Lust basiert auf dem Kastrationsverbot und begründet damit den Wert des Verbotenen. Hier ist der Eintritt in die symbolische Ordnung verortet, in der ein Verbot des Genießens herrscht.
Das Lustprinzip bevorzugt die Homöostase.
Das Lustprinzip ist sozusagen ein symbolisches Gesetz.
Das Lustprinzip führt durch die Reihe der Signifikanten die nötig sind um die Spannung des seelischen Apparats so niedrig wie möglich zu halten (Seminar VII: 119).
Der Trieb ist es jedoch, der die Übertretung des Lustprinzips, auch des Inzestverbots möglich macht und dem Subjekt damit sein Leid zufügt. Somit ist jeder Trieb ein Todestrieb.

Das Genießen wiederum steht für die unmittelbare Befriedigung und gehört somit als solche der Kategorie des Realen an. Es setzt sich somit über das symbolische Verbot hinweg. Wenn in einem Übermaß bringt es Leiden. Neurotisches Leiden.

Dummheit wirft dieser Generation den Beginn einer Menschheit in Gedankenlosigkeit, Gleichgültigkeit, Mitläufertum, Opportunismus und fehlender Meinungsbildung vor.
Ich erinnere an den Satz „denn was einer im Radio redet, darf kein Lehrer im Schulheft streichen“ (Horváth 1994: 13).
Auf meine Frage, was ihm denn fehle (in ihrer Doppeldeutigkeit gemeint), antwortete mir ein fast Dreißigjähriger: „Was für eine Frage; ich hätte doch alles“. „Sagt wer?“ „Alle. Die Anderen.“ „Meinen Sie, man kann nicht begehren; was man schon hat?“. „Ungefähr so, ja.“ „Und das berechtigt Sie, Ihr Begehren hinauszuschieben?“

Das Begehren darf nie zur Ruhe kommen. Was ist mit Begehren dabei gemeint und wohin kann es verschoben werden?
Es bedarf einer konzentrierten Geistesarbeit, sich mit der Angst im Lacan‘schen Kontext zu befassen. Sie ist eben der nicht signifikante Zugangsweg zum nicht signifikanten Objekt klein a. Also der Zugangsweg zu einem Rest, wie Miller Lacan interpretiert. Er löst die Angst als nicht signifikant vorerst von einem Begriff ab, um mit Vorsicht und Vorbehalt sie weiter vorwärts zu entwickeln.
Ich belasse es hier beim Zugangsweg von der Angst zum Objekt klein a, das ein anderes Objekt ist.
Martin Heidegger sagt, das Dasein ängstigt sich vor seinem eigenen in der Welt sein können (Heidegger 1989/1927: 186). Angst, sagt Lacan später, ist nicht ohne Objekt, jedoch ist nicht ein innerweltliches oder phobisches Objekt gemeint, sondern, dass etwas ans Licht gezogen wird, ein Teil von mir selbst, etwas abgetrenntes, ein Rest, etwas was nicht assimiliert ist und mit dem mir etwas Fremdes entgegenkommt, das Objekt klein a.

Angst ist etwas, was nicht täuscht und es korreliert mit der Struktur des Begehrens.
Lässt Begehren nach, kommt Angst auf. Das Begehren ist das Begehren des anderen.
Das Begehren darf also nicht zur Ruhe kommen, trotzdem es uns wiederholt und enttäuschend nur sagt, dass es das nun wieder nicht war.
Angst und Begehren sind also zwei reziproke Erscheinungen, die beide am Objekt Klein a aufgehängt sind und darüber Auskunft geben, wie es um die Sache steht. Und wie steht es nun um die Sache?
Gar nicht gut. Wir sind demnach entweder in Angst oder wir begehren etwas, was wir nicht sehen (Lacan Le Seminare livre X L‘ angoisse 1962/63).
Wo ich begehre ist also eine Lücke im Wissen, was der Lücke im Wissen, die Angst macht, sehr ähnlich ist. Wenn man begehrt hat man also auch Angst. Die Frage stellt sich nach dem Objekt.

Freud definiert die Angst als Signal von Triebanspruch, Lacan definiert die Angst als Zeichen des Begehrens. In der Analyse ist die Angst von Nutzen, da sie mit dem Begehren verknüpft ist. Die Phänomenologie der Angst jedoch interessiert uns in einem anderen Diskurs.
Das Begehren der Mutter muss eine Lücke bieten, sonst wird das Begehren im Kind erstickt werden, es wird sich an keinem Platz einfinden können. Das Kind muss sich in dem Mangel, in der Lücke des Begehrens der Mutter finden. An diesem weißen Fleck kann es in seinem ureigenen Begehren reifen.
Es ist nicht schwierig sich zu denken, dass mit der Geburt des Kindes bereits ein Verlust, ein Mangel, die Kastration sich in der Mutter einfindet und sie sich mit einem Rest begnügen wird müssen. Das ist eng mit der Natur des Menschseins verbunden. Hier kann sich später das Kind einfinden und reifen.
Wie aber, wenn das Begehren der Mutter in zu hohem Maß beeinträchtigt wird. Wenn Angst in seiner reziproken Dialektik oder Reales das Begehren der Mutter kürzen? Wie findet sich ihr Mangel an Begehren als Mangel an Begehren im Kind wieder und warum betrifft es speziell den heutigen Jugendlichen?
Appelliert man als Analytiker vorwiegend am Beginn einer Analyse an die Verantwortung, macht man ein schlechtes Geschäft. Der Analysant verharrt noch zurecht im Anspruch der Versorgung seiner Problematik an den Analytiker. Die enttäuschende Erkenntnis einer Selbstverantwortung und deren Akzeptanz wird noch eine Weile brauchen.

Ein wenig Zahlen. Sechs von zehn 29-Jährigen bezeichnen sich heute als Jugendliche mit der Begründung, dass sie noch zu Hause leben, da sie sich mit ihren Eltern gut, ja freundschaftlich vertragen und als Reale die Unbezahlbarkeit der Mieten eigener Unterkünfte angeben. Also liegt die Begründung im imaginären wie im realen Feld.
Sowohl eine fehlende, da nicht zur Trennung zwingende Notwendigkeit als auch eine äußere reale Notwendigkeit. Die Eltern, Vater wie Mutter werden heute gut vertragen. Das Bedürfnis, Eltern wegen Inkompatibilität zu verlassen, hat einen Riss bekommen.
Die eigentliche Ungemütlichkeit des Gehorchens fällt leicht, denn es ist kein Gehorchen nach dem ungenügenden Riss, da es kein spürbarer Riss ist, sondern ein konturenloses Verschwinden im Gleichklang.
Kind und Eltern ziehen an einem Strang, sind sich meist einig.
Der Generationenkonflikt hat sich verabschiedet, Eltern und Kinder sind sich ähnlich geworden. Nicht nur, weil die Kinder das so wollen. Die Eltern wollen das eben so, denn sie beweisen sich damit, anders als ihre eigenen zu sein.
Die Mutter, die gut genug ist, ist die beste Mutter, sagt Winnicott. Die heutigen Eltern wollen keinen Spalt im Mangel spürbar werden lassen, aufreißen lassen, sondern sie wollen es ordentlich, besser machen und hindern in finsterer Unschuld damit ihre Kinder, Subjekte zu werden.
Nicht, dass das nicht alle irgendwie tun, jedoch die heutigen Eltern besonders.
1972 waren es dem statistischen Bundesamt Deutschlands zufolge zwei von zehn in dieser Altersgruppe, die noch zu Hause ungetrennt vom Tisch lebten. Die damaligen Eltern haben sich vorwiegend politisch und auch kulturell ausreichend von ihren Kindern unterschieden, so dass der Wunsch nach draußen früh drängend wurde.
Wie selbstverständlich hört man heute als Analytiker „meine Eltern sind sehr tolerant und völlig in Ordnung, dort liegt sicher nicht mein Problem. Mein Problem liegt darin, dass ich nicht weiß, wofür ich mich entscheiden soll, für welches Studium zum Beispiel. Ja. Studium wäre gut, denn dann habe ich noch Zeit draufzukommen, was ich will. Ich darf, so sagen meine Eltern, ein Jahr lang ein Studium mir anschauen und dann eventuell ein anderes noch inskribieren. Oder aber ich gehe noch ein Jahr ins Ausland, freiwillig arbeitend, das könnte mich weiterbringen. Aber wohin und so geht die Suche weiter. Eigentlich liege ich am liebsten und höre Musik. Unlängst habe ich von James Dean den Hauptfilm gesehen, wo er mit seinem Vater gebrochen hat. Er ist danach, der Schauspieler, selbst gestorben wegen zu schnellem Autofahren. Das ist heute anders, mein Vater versteht mich gut, er lasst mir Zeit, ich darf das Auto mitbenutzen, muss kein eigenes haben, er ist tolerant und in Ordnung.“
Was fehlt Ihnen denn dann?
„Ich kann keine Entscheidung für mich treffen, das ist ja dann gleich für mein ganzes Leben und das ist zu früh.
Spätestens hier spürt der Analytiker eine bedrückende Passivität, ein Fehlen von dem, was Passion ist, einen bedrückenden Mangel an Begehren, der wie eine hängengebliebene Wiederholung sich in der Rede des Patienten zeigt.
Gegenübertragung, der Wunsch dem Anspruch des Patienten auf die Sprünge zu helfen durch Hilfe zur Nachreifung, die ja manchmal noch notwendig ist, macht sich breit und wäre hier nur ein Umweg.

In der öffentlichen Meinung bleibt trotzdem, dass die Kinder mit 25 ausgezogen sein oder sich an den gemeinsamen Kosten beteiligt haben sollten. Mit 40 Jahren leben nur mehr 4 Prozent der Männer und rund 2 Prozent der Frauen zu Hause.

Eine Beobachtung des Psychiaters ruht in mir. Meistens kommen diese großen Kinder,
mittlerweile weit über dreißigjährig, mit der Empfehlung und der Honorarzahlung einer ungeduldigen Mutter und eines toleranten Vaters in der Tasche, doch nun endlich mit einer Psychotherapie ihren Ängsten beizukommen.
Routiniert, ihre Ängste mit Joints zu beruhigen, deren Gefahr weit unterspielt wird bei dieser Art der Verstörtheit, wird rasch die Bitte nach einem beruhigenden Antidepressivum gestellt. Da dieses in der Regel die diffuse, frei flottierende Angst tatsächlich gut beeinflussen kann, werde ich mir Folgendes überlegen.
Gebe ich nun diesem Anspruch nach und verschreibe für die ersten Monate parallel zur Therapie dieses Medikament, wird der Patient durch die Linderung der Angst erfahren, wie sein Leben sich angstfrei lebt. Besser natürlich und er weiß es zu schätzen.
Setzen wir das Medikament ab, kommt in Kürze das ganze Problem durch die Hintertür.
Eines jedoch war da, die Erfahrung ohne diffuse Angst.
Nun können wir mit der Psychoanalyse beginnen und der Analytiker mit dem Zurückweisen jeglicher weiteren Ansprüche, worüber der Patient schon informiert ist, auch wenn er es immer wieder vergessen wird.

Literatur:
Breton, A. (1975): L’amour fou. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Evans, D. (2002): Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse. Aus dem Englischen von Gabriella Burkhart. Wien: Turia + Kant.
Heidegger, M. (1989 [1927]): Sein und Zeit. 16. Tübingen: Niemeyer.
Horváth, Ö. (1994): Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch.
Kojève, A. (1975): Hegel, eine Vergegenwärtigung seines Denkens: Kommentar zur Phänomenologie des Geistes, mit einem Anhang: Hegel, Marx und das Christentum Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Lacan, J.: Das Seminar, Buch X. Die Angst. 1962–1963. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek nach dem von Jacques-Alain Miller hergestellten französischen Text. Turia und Kant, Wien 2010.
Lacan, J. (2004): Le séminaire, livre X. L’angoisse. 1962–1963. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller. 1. Auflage. Paris: Éditions du Seuil.
Winnicott, D. (1971/2015): Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart: Klett-Cotta.

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